Der neue Krisendienst Oberpfalz startet am 1. März. Ein Gespräch der medbo mit Krisendienst-Geschäftsführer Jens Scheffel.
Die Leitstelle in Schwandorf steht, das Team ist weitgehend rekrutiert, die technischen Prozesse sind aufgesetzt: Der neue Krisendienst Oberpfalz arbeitet ab dem 1. März 2021 mit der bayernweit einheitlichen und kostenfreien Rufnummer 0800/655 3000 – ab 1. Juli 2021 dann täglich und rund um die Uhr.
Herr Scheffel, die psychiatrische Versorgungslandschaft in der Oberpfalz ist eigentlich sehr vielfältig und breit aufgestellt. Warum noch ein Krisendienst?
Sch.: Das ist vielleicht genau der Punkt: Die Versorgungslandschaft ist tatsächlich breit aufgestellt: von der Fachmedizin in niedergelassenen Praxen, über die Beratungsangebote für beinahe jede einzelne psychische Erkrankung, bis hin zum ambulanten und stationären Versorgungsangebot der medbo. Für Menschen in psychosozialen Krisen ist diese Vielfalt oft eher eine Überforderung.
… Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht …
Sch.: Richtig. Die Landkarte ist ziemlich komplex. Nicht nur in der Oberpfalz. Es fehlt das einfache Inhaltsverzeichnis. Das ist nicht nur für Erst-Betroffene und deren Angehörige eine Hürde, die verunsichert. Auch beispielsweise Profis wie Hausärzt:innen fehlt oft der Überblick.
… und der Wald ist riesig!
Sch.: Damit Menschen die Hilfe bekommen, die sie benötigen, sind oft Hausärzt:innen ihre ersten Ansprechpartner. Daneben gibt es jede Menge Selbsthilfeangebote, die vor allem lokal aufgestellt sind. Manche inserieren in der Tageszeitung, manche sind nur im Internet unterwegs. Dann gibt es viele Beratungsstellen, die für Bürgerinnen und Bürger einfach zugänglich und über die Landratsämter oder Träger wie die Caritas oder die Diakonie aufgestellt sind. Hinzu kommen Angebote des Bezirks wie zum Beispiel die Ambulanzen und Klinken der medbo. On top gibt es die Fachgesellschaften und Verbände, etwa die Depressionshilfe, die Angehörigenvereine, die Anonymen Alkoholiker, die trialogischen Angebote …
Ratsuchende müssen rausfinden: Was gibt es lokal, regional oder überregional. Es fehlt die zentrale Anlaufstelle…
Sch.: Anlaufstellen mit umfassenden Beratungs- und Hilfsangeboten gibt es schon. Zum Beispiel die sogenannten Sozialpsychiatrischen Dienste (SpDi), die sich vorrangig in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege befinden. Aber hier kommen wir zu einem neuen Problem: Diese Stellen sind nicht rund um die Uhr besetzt. Die Kommunikation der Angebote ist die eine Sache. Die tatsächliche Erreichbarkeit ist eine andere. Und genau da setzt der Krisendienst ein. Bemerkenswert ist deswegen, dass der Ruf nach einem zentralen Krisenangebot ursprünglich „von unten“ aus dem Netzwerk kommt. Die Politik hat die Idee aufgegriffen und als gesetzlichen Auftrag an die bayerischen Bezirke formuliert. Freistaat und Bezirke stemmen die Finanzierung gemeinsam.
Damit sind wir beim Punkt „Krisenfall“. Wie definieren Sie denn eine psychische Krise?
Sch.: Erst einmal: Es gibt für uns keine Lexikon-Definition für eine psychische Krise. Der Anrufer definiert. Damit ist Krise das, was ein Mensch als Krise empfindet, und zwar in dem Moment, indem er dies empfindet. Wir werden hier nicht werten, sondern uns jedes Anliegen, jede Not anhören und versuchen, einen passgenauen nächsten Schritt einzuleiten. Aber jede Krise hat ein Merkmal: Sie ist dringend. Ein Mensch in der akuten Krise kann nicht erst auf die Suche nach einem passenden Hilfsangebot gehen. Wenn es brennt, alarmieren wir über die 112 die Feuerwehr – in Zukunft wählen wir in der psychosozialen Krise die Nummer des Krisendienstes: 0800/655 3000.
Apropos Telefon: Wie sieht es mit der Erreichbarkeit des Krisendienstes aus?
Sch.: Anfangs wird der Krisendienst werktags und an den Wochenenden maximal von 09:00 bis 21:00 Uhr erreichbar sein. Aber ab dem 1. Juli 2021 steht die bayernweite, zentrale Rufnummer 0800/655 3000 dann rund um die Uhr, an sieben Tagen und Nächten in der Woche zur Verfügung. Wir haben diese Telefonnummer technisch so aufgesetzt, dass eine Zuordnung zu den Bezirken in Bayern möglich wird und somit Anrufer aus der Oberpfalz direkt an die zum Dienst eingeteilten Expert:innen der Leitstelle Schwandorf vermittelt werden.
Der Anruf ist für die Anrufer:innen kostenfrei?
Sch.: Selbstverständlich. Die 0800-Rufnummer ist gebührenfrei und unsere Arbeit wird dem Hilfesuchenden nicht in Rechnung gestellt.
Wie genau hilft der Krisendienst? Wie kann man sich das vorstellen?
Sch.: Beratung in einer Krise setzt besondere Kenntnisse beim Krisendienst-Team voraus. Wir sind darauf vorbereitet, Menschen zu unterstützen, die sich in einer gesundheits-, wenn nicht sogar lebensbedrohlichen psychosozialen Ausnahmesituation befinden. An unseren Telefonen sitzen Fachleute mit psychologischer, sozialpädagogischer oder fachpflegerischer Expertise, die auch in Krisenintervention geschult sind. Gelangen sie am Telefon zu dem Schluss, dass es einer sofortigen, weitergehenden Abklärung oder Intervention bedarf, dann kommen zusätzlich unsere mobilen Kriseninterventionsteams zum Einsatz.
Sie helfen also auch vor Ort in bestimmten Fällen?
Sch.: Ja. Derzeit integrieren wir ein mobiles Team, das dank des zentralen Standorts unserer Schwandorfer Leitstelle relativ schnell überall in der Oberpfalz hinkommt. Aber wir planen bedarfsgerechte weitere dezentralisierte mobile Kriseninterventionsteams. Vor Ort können diese Teams entscheiden, was zu tun ist: ob eine Krisenintervention in der Akut-Situation ausreicht, ob der oder die Anruferin im nächsten Schritt eine spezifische Hilfe bei einer anderen Stelle braucht, oder ob die betroffene Person medizinische Behandlung benötigt – zum Beispiel bei der medbo.
Der Krisendienst wird also auch intensiv mit der medbo zusammenarbeiten?
Sch.: Auf jeden Fall. Die Psychiatrischen Institutsambulanzen, die Akutaufnahmestationen und die Notaufnahmen der medbo Standorte werden enge Partnerinnen des Krisendienstes sein. Denn wenn eine psychosoziale Krise nicht mehr mit Kriseninterventionsmethoden bearbeitet werden kann, etwa weil die Betroffenen konkrete Suizidgedanken haben, dann braucht der Krisendienst die Kliniken als Option für den nächsten Schritt. Dann geht es um Menschenleben.
Waren diese medbo Einheiten nicht auch schon im bisherigen System Krisenversorger?
Sch.: Ja, natürlich. Aber genau da zeigt sich ein Problem der psychiatrischen Notfallroutinen: Eine normale Beratungsstelle, aber auch andere wichtige Stellen wie zum Beispiel die Polizei oder die Rettungsdienste, hatten in kritischen Situationen in vielen Fällen nur die Option, die Menschen gleich in die Bezirkskliniken zu bringen. Das hat zum einen dazu geführt, dass die Kliniken immer öfter an ihr Limit gekommen sind; zum anderen, dass manche Betroffene sich keine Hilfe holen, weil sie die Konsequenz „Einweisung“ fürchten.
Stigma „Psychiatrie“. Kann der Krisendienst hier helfen, Ängste und Vorbehalte abzubauen?
Sch.: Das ist das Ziel: Eine breite Bekanntheit und Akzeptanz dieses Hilfsangebots unter dem Aspekt der Niedrigschwelligkeit für Betroffene und Angehörige. Psychische Erkrankungen sollen weiter entstigmatisiert werden. Deshalb arbeiten wir ganz eng mit den Organisationen unserer Gesellschafter – alles gemeinnützige Unternehmen und Organisationen – zusammen. Wir wollen den Menschen in psychischen Krisen Anlaufstellen bieten und durch eine frühzeitige Unterstützung wirksam helfen. Für uns sind Prävention, Krisenintervention und Vermittlung in das bestehende Hilfesystem ganz zentrale Bezugspunkte.
Was ist mit den bisherigen Hilfsangeboten – Stichwort Telefonseelsorge & Co.?
Sch.: Wir nehmen den Beratungsstellen und anderen Hotlines wie zum Beispiel der Telefonseelsorge nichts an Bedeutung. Wir ergänzen sie. Denn alle Akteure im Beratungs- und Versorgungssystem können psychosoziale Krisenfälle an uns weitervermitteln, wenn sie das für angezeigt halten. Und das hilft auch den Bezirkskliniken, denn sie werden in dieser Konstellation mit vorgeschaltetem Krisendienst auf Dauer in höherem Maße wahrgenommen werden als das, was sie eigentlich sind: Krankenhäuser.
Alles Gute und viel Erfolg für das Krisendienstteam Oberpfalz!
Das Gespräche führte Renate Neuhierl, medbo
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