Es soll sichtbar machen, worüber sonst nicht geredet wird: Knapp 80 Menschen haben sich am Dienstagnachmittag in Betttücher gehüllt und schweigend auf den Marienplatz gelegt. Ein stummes Gedenken an die 191 Personen, die sich allein 2022 in München das Leben genommen haben. 191 Suizide zu viel, finden die Veranstalter der Aktion zum Welttag der Suizidprävention: Ein Bündnis aus den Beratungsdiensten DIE ARCHE Suizidprävention und Hilfe in Lebenskrisen e. V., der katholischen und evangelischen TelefonSeelsorge München, der Krisenberatungsstelle Münchner Insel und dem Krisendienst Psychiatrie Oberbayern.
„Wir wollen nicht nur der Menschen gedenken, die durch Suizid gestorben sind. Sie fehlen in unserer Stadt und im Leben unzähliger Menschen. Wir wollen uns auch gemeinsam stark machen für das Leben und Hilfe in existenziellen Nöten. Suizidprävention gehört in die Mitte der Gesellschaft“, teilten die Veranstalter mit. Jahrelang ging in Deutschland die Zahl der Suizide zurück. Nun ist sie zum ersten Mal seit knapp zehn Jahren wieder über die 10000er-Marke gestiegen. „Das macht betroffen und zeigt, dass wir die Öffentlichkeit wachrütteln und handeln müssen, vor allem in Zeiten, in denen die Bundesregierung aufgerufen ist, ein Suizidpräventionsgesetz auf den Weg zu bringen“, erklärte die Geschäftsführerin von DIE ARCHE, Heidi Graf.
Hilfestellen am Limit und fehlende Therapieplätze
2022 haben sich in Deutschland 10119 Menschen das Leben genommen, eine Zunahme um fast zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 2023 waren es 10300, noch einmal um 1,8 Prozent mehr. In Bayern nahmen sich 1800 Menschen das Leben, hier liegt die Suizidrate über dem Bundesschnitt. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher liegen, da gerade Suizide im Alter nicht immer bemerkt werden.
„In den vergangenen Jahrzehnten ist viel geschehen, um Menschen in suizidalen Krisen ein offenes Ohr und eine helfende Hand zu schenken. Aber das allein reicht nicht aus. Unsere Stellen arbeiten am Limit – personell und oft auch finanziell, zumal auch die Kirchen mit abnehmenden Einnahmen fertig werden müssen“, sagte die Leiterin der Krisenberatungsstelle Münchner Insel, Sybille Löw.
Das Bundesgesundheitsministerium habe in seiner im April vorgelegten Nationalen Suizidpräventionsstrategie darauf hingewiesen, wie wichtig die niedrigschwellige Beratung gerade telefonisch oder online sei, erklärte Alexander Fischhold, der Leiter der Katholischen Telefonseelsorge München. Es müsse jedoch auch sichergestellt werden, dass bei Bedarf genügend Therapie- oder Klinikplätze zur Verfügung stünden: „Wie erleben in unserer Arbeit immer wieder, dass Menschen verzweifelt sind, weil sie monatelange warten müssen, bis sie eine Therapie beginnen können. Das zermürbt viele“, erklärte er.
Stigmatisierung und hohe Hemmschwellen
„Prävention fängt schon weit vor der suizidalen Krise an – einsamen Menschen zuzuhören, Menschen mit psychischen Erkrankungen Hilfe zu vermitteln. Doch trotz aller Anlaufstellen kennen viele diese Angebote nicht oder scheuen sich hinzugehen oder anzurufen“, sagte Cornelia Maier, Geschäftsführerin des Krisendienst Psychiatrie Oberbayern. Wichtig sei es, Suizidprävention in den Alltag zu tragen – zum Beispiel mit Informationen im öffentlichen Raum sowie gezielten Ansprachen in Schulen und Jugendeinrichtungen. Hierzu sei eine Kooperation von Politik, Einrichtungen und Kliniken notwendig. Ein Vorbild hierbei könnte Frankfurt am Main sein, wo es ein Netzwerk Suizidprävention gibt, das auch im Stadtbild präsent ist.
Neben der Telefonseelsorge ist auch der vom Bezirk Oberbayern mitfinanzierte Krisendienst Psychiatrie Oberbayern kostenlos rund um die Uhr und an allen Tagen des Jahres erreichbar. In der Münchner Insel wie bei DIE ARCHE können sich Menschen in suizidalen Nöten ebenso wie Angehörige auch kurzfristig melden.